Virtuelle Baustelle im Handwerk 4.0

Automatische 3D-Raumvermessung im Rundumbild

Virtuelle Realität ist heute bereits fester Bestandteil vieler Lebensbereiche. Dabei geht es längst nicht mehr nur um Unterhaltung, sondern um nützliche Unterstützung. Eines der bekanntesten und zugleich frühesten Beispiele ist die virtuelle Badbegehung mit VR-Brille, welche 2013 von der Firma immersight nach eigenem Bekunden erfunden wurde und heute praktisch in der Sanitärbranche fest etabliert ist. Doch abseits von Beratung und Kundenpräsentation hält die virtuelle Welt auch immer weiter Einzug in die Projektausführung.

Schon seit Jahren wird unter dem Begriff „Industrie 4.0“ die Digitalisierung der industriellen Fertigung vorangetrieben. Aber was ist mit der Baustelle? Vor allem mit dem Baunebengewerbe, also den Bad- und Heizraumsanierungen? Hier liefert z. B. das Unternehmen immersight mit dem sogenannten „3D-Workroom“ eine Lösung fürs „Handwerk 4.0“.

Nahezu reale Begehung

„Das müsste ich mir mal anschauen“, lautet ein häufiger Satz im Handwerk. Eine Anfahrt, ein Vor-Ort-Termin, eine Besprechung auf der Baustelle, das Handwerk arbeitet vor Ort beim Kunden. Inzwischen werden aber viele Dinge vorher geplant und konzipiert und nicht mehr vor Ort überlegt, sondern im Büro. Doch bevor es überhaupt eine Baustelle gibt, muss erstmal der Auftrag her. Und bei Firma Bez heißt das, dass Oliver oder Marion Bez persönlich zum Kunden fährt und sich die Ausgangssituation anschaut. Und wenn der Chef persönlich beim Aufmaß vor Ort war, bringt er meistens einen Auftrag nach Hause und die Mitarbeiter beginnen mit der Planung – ohne selbst dort gewesen zu sein. Viele kennen die Herausforderung, sich in einen Raum hineindenken zu müssen, anhand von wenigen Fotos und Zeichnungen. Das hat bei Marion und Oliver Bez auch oft zu Diskussionen geführt – also bei jeder neuen Badsanierung. Als Marion Bez dann im Jahre 2019 auf einer Veranstaltung das Unternehmen immersight und die 360°-Kamera entdeckte, entstand bei ihr eine Idee: ein vollständiges Aufmaß zu machen, in Fotoqualität, das jeden Raum mit Vermaßung zeigt.

Nach langem hin und her bestellte sie 2021 für jeden Mitarbeiter eine 360°-Kamera samt „3D-Workroom“-Lizenz. „Entweder jeder kriegt eine, ohne wir lassen es“, war Oliver Bez überzeugt, der das Projekt energisch vorantrieb. Was sich dann im Unternehmen entwickelte, veränderte den gesamten Arbeitsalltag. Inzwischen können die Mitarbeiter jedes Projekt aus dem Büro heraus virtuell betreten und sich selbst ein Bild machen. Sie müssen sich nicht mehr auf die wenigen Infos vom Chef verlassen. Aber das gilt auch andersherum. Oliver Bez macht jeden Tag eine Begehung aller seiner Baustellen – in wenigen Minuten. Da jeder Mitarbeiter am Abend den aktuellen Stand der Baustelle in 3D erfasst, kann Oliver entspannt in den Feierabend und hat dabei den vollen Durchblick. „Ich hätte wirklich nicht gedacht, dass es so viel bringt“, lässt Oliver Bez wissen und seine Frau Marion fügt hinzu: „und dass es so einfach nutzbar ist!“

3D-Raumvermessung im Rundumbild

Bisher bestand eine virtuelle Begehung aus einem interaktiven, visuellen Erlebnis. Genau so wie man heute an vielen Stellen das geplante Badezimmer in 3D erleben kann. Mit der immersight Technologie 3D-Raumvermessung kann man die von der 360°-Kamera erfassten Räume vom Büro aus vermessen. Nach Angaben des Softwareunternehmens betragen die Abweichungen zwischen 1 bis 3 cm. „Natürlich müssen manche Maße auf den Millimeter genau mit Meterstab oder Laser-Distanzgerät genommen werden, aber viele Maße kann man später in Ruhe am Schreibtisch erfassen. Und das jederzeit und auch nachträglich. Eine Aufnahme dauert etwa eine Minute – so kann die Zeit vor Ort auf ein Minimum reduziert werden“, erklärt Fabian Weiss, Geschäftsführer des Unternehmens immersight. Bei dem Handwerksbetrieb Bez heißt das, dass der Chef am Abend nicht nur virtuell Baustellen begeht, sondern auch selber Überprüfungsmessungen im Rohbau vornehmen kann – ohne einen Fuß vor die Tür zu setzen.

Schnittstellen vorhanden

„Die virtuelle Baustelle muss sich nahtlos in den Geschäftsbetrieb integrieren, ansonsten drohen Insellösungen zu entstehen, die am Ende keine Effizienz bringen, sondern den Menschen zum Datenkopierer machen“, hebt Fabian Weiss hervor und ergänzt: „Jeder Handwerksbetrieb hat eine Organisations-Software – auch „Handwerker-Software“ genannt“ – um Wareneingänge zu erfassen, Angebote und Rechnungen zu schreiben. Und genau da ist eh schon der Kundenauftrag für alle Mitarbeiter zugänglich hinterlegt. Genau an dieser Stelle wird eine virtuelle Baustelle einfach verlinkt.“ Jedes Projekt im „3D-Workroom“ hat dazu einen eigenen WebLink, der mit einem Klick kopiert werden kann. Weiss: „So braucht der Handwerksbetrieb keine Daten doppelt anlegen. Und so funktioniert das natürlich auch mit der Handwerker-Software, die Bez im Betrieb nutzt – die Software von Label.“

Automatismus ist der Schlüssel

Bei der Anwendung von „3D-Workroom“ werden Fotos automatisch zu den jeweiligen Projekten einsortiert, anhand von GPS-Daten. Das bedeutet, der Mitarbeiter kann so viele Fotos machen wie er braucht, am Abend einmal auf „Upload“ klicken und damit ist die Zuordnung zum Projekt absolviert. Mehrere Aufnahmen über einen Zeitraum werden automatisch chronologisch sortiert und in Projektmappen zusammengestellt.

„Zukünftig wird eine künstliche Intelligenz noch viel mehr Automatismus bringen“, ergänzt Fabian Weiss und führt weiter aus „wir haben ganz neu einen 2D-Grundrissplaner entwickelt, der einen Plan direkt aus der Raumvermessung generiert.“

3D-Ansicht für Kunden

Neben der digitalen Arbeitsvorbereitung, der virtuellen Mitarbeitereinweisung und der 3D-Dokumentation, gibt es noch ein 4. Features des „3D-Workrooms“. Direkt nach einem Erstbesuch und der 3D-Erfassung – welche nur eine Minute dauert – bekommt der Endkunde in einer E-Mail einen Link und kann sich die 3D-Raumvermessung z. B. seines alten Bades anschauen. „Das begeistert die Endkunden regelmäßig und zeigt unsere Kompetenz“, strahlt Oliver Bez. „Und unser Angebot erscheint gleich in einem anderen Licht“, freut sich Marion Bez. Und das Beste: „Wenn der Endkunde eine komplette Baustellendokumentation haben möchte, dann erstellen wir zum Abschluss mit einem Knopfdruck einen 3D-Bericht und verkaufen diesen auf einem USB-Stick dem Endkunden. Dadurch macht sich die gesamte Investition in 360°-Kameras und ‚3D-Workroom‘ nicht nur bezahlt, sondern generiert sogar Extraeinnahmen“, so Marion Bez abschließend.

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