„Digitalisierung fordert stetiges Lernen“

Durch Qualifikation dem Fachkräftemangel entgegenwirken

Welche Rolle spielen Weiterbildungen in Bezug auf den Fachkräftemangel? Was ist wichtiger - bestimmte Qualifikationen oder die formalen Bildungsabschlüsse des Bewerbers? Was macht Unternehmen für junge Arbeitnehmer attraktiv? Jaime Perkins, Director of Learning Strategy, Curriculum Design and Certification bei Autodesk, spricht im Interview mit der COMPUTER SPEZIAL u.a. über diese Aspekte und stellt die Ergebnisse einer neuen Studie vor. Ergänzend erläutert Rachel Sederberg, Senior Economist bei Emsi Burning Glass, wie Unternehmen neue Mitarbeiter erreichen.

CS: Das Thema Fachkräftemangel ist in den Medien sehr präsent, und viele Gründe sind bekannt. Gibt es einen Aspekt/Grund für den Fachkräftemangel, der aus Ihrer Sicht noch mehr Aufmerksamkeit bedarf als bislang?

Jaime Perkins: Fachkräftemangel ist in der Tat ein anhaltendes Thema – in Deutschland insbesondere eine Folge des demografischen Wandels. Es kommen schlicht weniger Facharbeiter nach als gehen. Auch die Digitalisierung spielt eine Rolle. Berufe und Positionen wandeln sich zu neuen Jobs und erfordern ein Umdenken. Spezialisierte Bauberufe verzeichneten in den letzten Jahren eine starke Nachfrage. Auch wenn man glauben könnte, dass diese Berufe nicht vom technologischen Wandel und den entsprechenden Qualifikationen betroffen sind, so ist das doch klar der Fall. Auch dort werden immer mehr Softwarekenntnisse benötigt. Zusatzausbildungen wie Zertifizierungsprogramme können diesen Arbeitnehmern helfen, sich zu profilieren und Arbeitsplätze zu sichern.

CS: Autodesk und Emsi Burning Glass haben vor einiger Zeit einen neuen Report vorgestellt. Worum geht es und was sind die Kernaussagen/Ergebnisse dieser Studie?

Jaime Perkins: Mit der Studie „Skilled Beyond Degree“ untersuchten wir, welche Berufe, Fähigkeiten und Ausbildungen im Baugewerbe und in der Fertigung am meisten gefragt sind. Analysiert wurden Stellenausschreibungen in den USA, Großbritannien und Deutschland aus dem gesamten Jahr 2020. Im Baugewerbe und in der verarbeitenden Industrie stellen wir eine Verschiebung der Stellenausschreibungen weg von der Forderung nach einem Bachelor-Abschluss fest. Bei allen Funktionen und in allen Regionen zeigt sich, dass Qualifikationen immer wichtiger werden als Bildungsniveaus. Auch in Deutschland wird immer öfter nach spezifischen Kompetenzen gesucht, aktuell besonders Datenanalyse- und Managementfähigkeiten. Zudem zeichnet sich ab, dass Berufe im Bereich der Erneuerbaren Energien im verarbeitenden Gewerbe zu denen gehören, die in den nächsten fünf Jahren am stärksten wachsen werden. Das unterstreicht die Notwendigkeit der Anpassung an neue Methoden und neue Technologien. Mit den passenden Qualifikationen fällt es Arbeitnehmern leichter, sich neuen Herausforderungen zu stellen und sich an sich ständig verändernde Technologien zu gewöhnen, was natürlich auch dem Arbeitgeber zugutekommt. Arbeitnehmer mit passenden Qualifikationen werden sehr gefragt sein und entsprechend höhere Löhne erzielen. Arbeitgeber werden im Umkehrschluss eine Talentstrategie entwickeln müssen, die sicherstellt, dass sie die benötigten Arbeitskräfte haben.

CS: Die Studie hat ergeben, dass in anderen Ländern praktische Berufserfahrung für Arbeitgeber mehr zählt als (akademische) Abschlüsse und Zertifikate. In Deutschland hingegen wird immer noch viel Wert auf formale Bildungsabschlüsse gelegt. Muss in dieser Hinsicht ein Sinneswandel bei deutschen Unternehmen erfolgen?

Jaime Perkins: Im Vergleich zu Großbritannien und den USA wurde deutlich, dass in Deutschland zwar ein höherer Ausbildungsstandard gepflegt wird, der Fokus bei der Suche nach Führungskräften insgesamt aber immer noch weniger auf Softwarekompetenzen und mehr auf Fähigkeiten liegt, die im traditionellen Handwerk gefragt sind. Dieser Ansatz steht im Widerspruch zum grundlegenden Wandel der Arbeitswelt, der in den letzten 18 Monaten ein noch nie dagewesenes Tempo bei der Digitalisierung vorgelegt hat. Diese Entwicklung wird weit über die Covid-19-Pandemie hinaus anhalten. Entsprechende Umschulungen und Weiterbildungen der Mitarbeiter werden daher wichtiger denn je und die deutschen Unternehmen haben eindeutig Nachholbedarf, wenn es darum geht, sich angemessen auf die weitere Digitalisierung vorzubereiten und international wettbewerbsfähig zu bleiben.

Die meisten Arbeitsplätze im Baugewerbe (77 %) erfordern auch in Deutschland keinen Hochschulabschluss der Bewerber, wobei wichtige Fähigkeiten wie Software-, Programmier- oder Management-Expertise auf diesem Bildungsniveau eventuell nicht ausreichend gelehrt werden oder die Lehrinhalte bereits veraltet sind. All diese Fähigkeiten können sowohl in einer formalen Ausbildung als auch in einem weniger formalen Trainingsprogramm erlernt werden. Unternehmen sollten daher Arbeitnehmer eigenständig weiterbilden und umschulen, damit sie für die Zukunft gut gerüstet sind.

CS: Nicht nur die Ansprüche der Unternehmen, auch die der Arbeitnehmer ändern sich. Worauf legen (junge) Fachkräfte heutzutage Wert? Und was können Unternehmen tun, um als attraktiver Arbeitgeber wahrgenommen zu werden?

Jaime Perkins: Berufstätige – insbesondere junge Berufstätige – streben an, sich kontinuierlich weiterzuentwickeln und in ihrer Karriere vorwärtszukommen, z. B. durch Schulungen, Mentoring oder Lernprogramme. Wenn junge Berufstätige nicht das Gefühl haben, bei ihrem Arbeitgeber ihre Fähigkeiten vorantreiben zu können, werden sie sich wahrscheinlich bald nach einer anderen Stelle umsehen, wo sie das tun können. Wir beobachten außerdem, dass sich junge Berufstätige Sinnhaftigkeit in ihrer täglichen Arbeit wünschen. Das kann für jeden etwas anderes bedeuten, doch Unternehmen sei dazu geraten, ihren Mitarbeitern Möglichkeiten zu geben, sich gemeinnützig zu betätigen, z. B. über ehrenamtliche Arbeit oder Spenden. Allerdings muss das auch authentisch zum Gesamtbild des Unternehmens passen. Mitarbeiter zur Weltverbesserung zu ermutigen, während das Unternehmen keinen merklichen Beitrag leistet, wird bei jüngeren Arbeitnehmern wahrscheinlich nicht ankommen.

CS: Auf der einen Seite herrscht Fachkräftemangel, auf der anderen Seite werden durch die zunehmende Automatisierung von Planungs- und Arbeitsprozessen durch Software bzw. den Einsatz von KI Kapazitäten frei. Welche Möglichkeiten bieten hier Weiterbildungen, um fähige Mitarbeiter für neue Positionen im Betrieb zu qualifizieren?

Jaime Perkins: Automatisierung, KI und technologischer Wandel machen lebenslanges Lernen noch wichtiger. Angesichts dieser Umbrüche ist es sowohl für Arbeitgeber als auch für Arbeitnehmer wichtig, sich damit zu beschäftigen, wie Fähigkeiten weiterentwickelt werden können, sodass entsprechende Arbeitsplätze durch Anpassung und Modifizierung an Stabilität gewinnen. Unsere Studie fand heraus, dass viele von der Automatisierung betroffene Fachkräfte nur eine Handvoll Kompetenzen dazulernen müssen, um den Arbeitsplatz für die Zukunft abzusichern. Im gleichen Zuge steigt für die Arbeitnehmer das Gehaltsniveau und Arbeitgeber wirken dem Fachkräftemangel entgegen. Stetige Weiterbildung eröffnet demnach gleich dreifach neue Chancen.

CS: Wo sind die Grenzen dessen, was Unternehmen eigenständig gegen den Fachkräftemangel ausrichten können? Wo muss z. B. die Politik mit entsprechenden Regelungen eingreifen oder Rahmenbedingungen schaffen?

Jaime Perkins: Das Problem des Fachkräftemangels können die Unternehmen nicht allein lösen. Die digitale Transformation der Arbeitswelt kann nur gelingen, wenn Wirtschaft und Politik bei der Ausbildung und Umschulung von Fachkräften an einem Strang ziehen und die Arbeitnehmer dabei unterstützen, sich die Kompetenzen anzueignen, die für die zunehmend digitalisierten Arbeitsabläufe benötigt werden. Sowohl Politik als auch Wirtschaft werden den Zugang zu Weiterbildungsmaßnahmen für bereits Beschäftigte erleichtern müssen. Dem Fachkräftemangel lässt sich nur erfolgreich entgegenwirken, wenn sich Arbeitnehmer kontinuierlich neue Fähigkeiten und berufliche Qualifikationen aneignen können, ohne mehrjährige Studien absolvieren zu müssen. Neben diesem zentralen Punkt der Aus- und Weiterbildung auch von An- und Ungelernten ist die Politik weiterhin gefordert, wenn es um die Förderung von qualifiziertem Personal aus dem Ausland geht. Ebenso wertvoll ist die Erfahrung von Fachkräften, die die Regelaltersgrenze bereits erreicht haben, sowie von Frauen, die in vielen Fällen in Teilzeitmodellen arbeiten. Diese Gruppen gilt es systematisch im Besonderen in ihrer Erwerbstätigkeit zu stärken.

CS: Rein aus praktischer Sicht: Wie erreichen Unternehmen heutzutage potenzielle neue Mitarbeiter? Welche neuen Wege sind eventuell nötig, um qualifiziertes Personal auf das eigene Stellenangebot aufmerksam zu machen?

Rachel Sederberg: Um passende Fachkräfte auf dem großen globalen Arbeitsmarkt zu finden und ansprechen zu können, benötigt es einen Ansatz, der sowohl sichtbare als auch versteckte Talentpools berücksichtigt. Weniger offensichtlich, und deshalb auch „versteckt“ genannt, sind z. B. aus angrenzenden Rollen. Dabei haben diese meist Fähigkeiten, die sich mit verwandten Berufen überschneiden. Eine Stellenausschreibung, die sich auf diese Skills und nicht auf eine bestimmte Ausbildung oder vorherige Erfahrung konzentriert, kann den Arbeitnehmern signalisieren, dass sie für eine Rolle qualifiziert sind, für die sie sich auf dem Papier sonst vielleicht nicht eignen würden.

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