Voraussetzungen für die durchgängige Digitalisierung der Baubranche
Anamnese – Ein Praxisbespiel
Digitale Transformation der Baubranche
Quelle: BVBS
Zum Stand der Digitalisierung wird beispielhaft ein Ausschnitt aus dem Stahlbetonbau geschildert. Stahlbeton ist mit 100 Millionen verbauten Kubikmetern im Jahr noch immer der am meisten verwendete Baustoff in Deutschland. (Quelle: Wikipedia) Die darin verbauten 6 Millionen Tonnen Betonstahl machen den Beton zum tragfähigen Verbundwerkstoff. Seit mehr als einhundert Jahren werden die einzubauenden Betonstähle (Bewehrungsstähle) entsprechend den von Tragwerksplanern erstellten Stahllisten (Biegelisten) geordert, in Biegebetrieben gefertigt und dann zur Baustelle oder zum Fertigteilwerk transportiert. Je komplexer ein Stahlbetonbauteil, umso mehr verschiedene Bewehrungspositionen müssen geplant und gefertigt werden. Seit über 20 Jahren ist es möglich, Bewehrungsdaten vollständig digitalisiert zu übertragen. Der Bundesverband Bausoftware e.V. (BVBS) entwickelte dazu in Zusammenarbeit mit verschiedenen Stakeholdern die abs-Schnittstelle. Sämtliche namhafte Softwareunternehmen haben bei den CAD-Programmen die abs-Schnittstelle seit langem implementiert. Die neueste Version 3.1 ermöglicht die Erzeugung nahezu aller Bewehrungselemente und ist auf der BVBS-Webseite kostenfrei verfügbar. Im Zuge der Planung können die abs-Dateien, oft BVBS-Dateien genannt, ohne Mehraufwand erzeugt werden.
Bewehrungskörbe auf der Baustelle
Bild: iStock
Eine im Frühjahr 2021 vom Institut für Stahlbetonbewehrung (ISB) durchgeführte Umfrage ergab, dass in den Biegebetrieben maximal ein Zehntel aller Biegeformen mit Hilfe von digitalen Bewehrungsdaten gefertigt werden. Das bedeutet, dass für 90 % aller Betonstähle die Mitarbeiter eines Biegebetriebes die als pdf-Datei gelieferten Stahllisten Zahl für Zahl abtippen. Dass diese analoge Methode fehleranfällig und zeitaufwendig ist, haben außerhalb Deutschlands bereits sehr viele Unternehmen erkannt. Im Ausland, von Mexiko über Japan bis nach Österreich, werden Bewehrungsdaten weitaus häufiger per abs-Dateien übertragen als in Deutschland.
Diagnose – Was fehlt?
Warum hinkt Deutschland bei den digitalen Bewehrungsdaten, bei BIM und anderen Digitalisierungsthemen im internationalen Vergleich hinterher? Die digitalen Methoden sind vorhanden, doch warum werden sie in Deutschland zögerlicher angewendet als anderswo?
Folgende Faktoren spielen bei den Bewehrungsdaten eine Rolle und lassen sich wahrscheinlich auf andere Bereiche der Baubranche übertragen: Manche Mitarbeiter in den Biegebetrieben sind skeptisch gegenüber neuen Prozessen. Die digitalen abs-Dateien erscheinen ihnen wie eine Blackbox, deren Inhalt im Vergleich zur pdf-Datei oder dem Papierausdruck nicht gut lesbar ist. Die Menschen haben ihr ganzes Berufsleben die Zahlen der Biegelisten abgetippt, bis zum Ruhestand wollen sie das ohne großartige Veränderungen auch weiterhin gut schaffen. Bei kleineren einfachen Bauteilen scheint das Abtippen schneller zu gehen als das Einlesen einer Datei. Einige der Menschen haben vielleicht Angst, sie würden nicht mehr gebraucht, wenn die Datenübertragung ganz automatisch erfolgt. Viele Akteure kennen neuere digitale Formate nicht, sind dafür nicht geschult, müssten sich neben dem Alltagsgeschäft mit neuen Themen auseinandersetzen. Um digitale Bewehrungsdaten zu erhalten, ist die Kommunikation verschiedener Projektpartner erforderlich. Da müssen Biegebetriebe mit Bauunternehmen sprechen, diese mit den Planungsunternehmen. Die wiederum sagen vielleicht, sie seien für abs-Dateien nicht beauftragt. Auf der anderen Seite fehlt Bauherren häufig die Fachkenntnis, um diesen scheinbar kleinen Aspekt der Bewehrungsdaten bei der Komplexität eines Bauvorhabens auch noch zu berücksichtigen. Wissen, Zeit und Durchhaltevermögen sind erforderlich, um noch ungewohnte digitale Formate bei allen Projektpartnern zu etablieren. Und nicht selten wird gesagt, vertragliche Grundlagen seien für manche digitale Formate (noch) nicht vorhanden.
Therapie – Was braucht die Baubranche für die durchgängige Digitalisierung?
Die besten digitalen Methoden nützen wenig, wenn die Akteure der Branche zu wenig darüber wissen. Die digitale Transformation wird nur gelingen, wenn die Menschen im Prozess mitgenommen werden. Vertreter aller Bereiche der Branche müssen daher mehr miteinander reden und gemeinschaftlicher zusammenarbeiten. Und nur wenn analoge und digitale Prozesse verknüpft werden können, wird die Digitalisierung für alle lebbar. Für den effizienten durchgängigen Workflow sind herstellerübergreifende standardisierte Austauschformate und Schnittstellen, für die sich der Bundesverband Bausoftware einsetzt, essenziell.
Der BVBS fordert, die digitale Fachkompetenz baubranchenweit deutlich zu stärken, denn gut ausgebildete Fachkräfte und Know-how sind in allen Bereichen und Ebenen erforderlich. Bau-IT muss zum Pflichtprogramm an den Hochschulen und bei der beruflichen Ausbildung gehören. Berufsbegleitend ist für die digitale Kompetenz in der gesamten Baubranche für alle Mitarbeiter eine jährliche Weiterbildung von mindestens zehn Tagen notwendig. Staatliche Förderprogramme für das lebenslange Lernen wären hier hilfreich. Des Weiteren ist für die digitale Transformation in der schulischen Bildung eine stärkere MINT-Ausrichtung sinnvoll. Eine digitalisierte Bauwirtschaft ist attraktiv für den Nachwuchs – sowohl für Frauen als auch für Männer.
Derzeit sind kleine und mittlere Unternehmen in der Baubranche weniger digitalisiert als die größeren Unternehmen. Daher sollte das Förderprogramm „Digital Jetzt“ fortgesetzt und ausgebaut werden. KMU, die digitale Lösungen einsetzen, sollten stärker gefördert werden. Neben großen Pilotprojekten sind ebenfalls kleinere Pilotprojekte bis 1,5 Mio. € notwendig, um die Digitalisierung der Baubranche zu beschleunigen. Ebenso muss die Entwicklung der künstlichen Intelligenz weiter gefördert und zur Anwendung gebracht werden. Denn KI wird insbesondere für Assistenztätigkeiten vermehrt und äußerst nutzbringend zur Anwendung kommen.
Für die durchgängige Digitalisierung braucht es des Weiteren eine umfassende Digitalisierung der Verwaltungsstrukturen. Dazu gehört auch, dass Vergabestellen und Behörden personell besser besetzt und zur Digitalisierung verpflichtet werden. Eine deutlich bessere Ausstattung mit Soft- und Hardware im öffentlichen Sektor sowie die digitale Vernetzung der genehmigenden Behörden ist dringendst notwendig. Im Vergleich zur stationären Software bieten Cloudlösungen als technologische Plattform viele Vorteile. Die DIN BIM Cloud beispielsweise ist als kostenfreie Online-Bibliothek für Merkmale von BIM-Projekten ein praktisches Nachschlagewerk für Bauteileigenschaften und deren Identifikatoren. Je nach Anwendungsfall lassen sich die Inhalte einfach in beliebigen Softwaresystemen verwenden.
Vision und Ausblick
Der Bausektor verantwortet in seiner Gesamtheit von der Errichtung bis zum Betreiben bekanntlich etwa 38 % der globalen CO2-Emissionen. Infolge des hohen Anteils sogenannter grauer Energie im Bausektor lassen sich durch Umnutzung von Gebäuden im Vergleich zur Errichtung eines gleichwertigen Neubaus bis zu 80 % CO2 einsparen. Nur wenn digitale Methoden für Analysen, Planung und Ausführung zukünftig umfassend und durchgängig angewendet werden, können die von Deutschland formulierten Klimaziele im Baubereich erreicht werden!
Software für energetische Gesamtbetrachtungen, für Lebenszykluskostenanalysen, für Berechnungen zum Green Deal, für CO2-Analysen zum Vergleich von Abriss, Neubau und Teilerhalt von Bauwerken usw. steht schon jetzt zur Anwendung bereit. 5D war gestern. Mit 6D, d.h. der sechsten Dimension für die Nachhaltigkeit, wird die Ökobilanzierung sowohl für den Neubau als auch für den Bestand ermöglicht. Die Losung lautet: Einfach machen.